Berlin. Arbeitszeiten müssen in Deutschland grundsätzlich und systematisch erfasst werden. Dies hat das Bundesarbeitsgericht in einem Grundsatzurteil entschieden (Az.: 1ABR 22/21). Gerichtspräsidentin Inken Gallner begründete das am Dienstag in Erfurt mit der Auslegung des deutschen Arbeitsschutzgesetzes nach dem sogenannten Stechuhr-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) von 2019. Die Folgen werden nach Einschätzung von Fachleuten weitreichend sein. Unternehmen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Politik dürfte der Richterspruch noch lange beschäftigen.

▶ Was ist der Anlass des Urteils?

Geklagt hatte der Betriebsrat einer sozialen Einrichtung in Nordrhein-Westfalen. Die Betriebsräte wollten ein Initiativrecht für die Einführung eines elektronischen Systems zur Zeiterfassung erstreiten. Sie wollten von ihrem Arbeitgeber verlangen können, eine digitale Stechuhr einzuführen. Bisher hatten Betriebsräte in dieser Frage nur ein Abwehrrecht, wenn sie eine Überwachung durch den Arbeitgeber befürchteten. Der klagende Betriebsrat sorgt sich allerdings nicht vor der Überwachung, sondern vor der Überlastung der Beschäftigten. Die Zeiterfassung soll helfen, Überstunden zu dokumentieren und einzudämmen.

▶ Was hat das Bundesarbeitsgericht konkret entschieden?

Formal hat der Betriebsrat nicht recht bekommen. Eine betriebliche Mitbestimmung oder ein Initiativrecht für die Einführung digitaler Zeiterfassungssysteme sei ausgeschlossen, urteilte das höchste deutsche Arbeitsgericht. Die Begründung der Ablehnung hat es allerdings in sich: Das Gericht hält ein Initiativrecht für überflüssig, da in Deutschland bereits eine gesetzliche Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung existiere. Diese ergibt sich laut der Vorsitzenden Richterin aus der Auslegung des deutschen Arbeitsschutzgesetzes nach Maßgabe des „Stechuhr-Urteils“ des EuGH. Es wurde bisher allerdings nicht in deutsches Recht umgesetzt. Die Richterinnen und Richter gehen damit über die eigentliche Forderung der Kläger hinaus.

▶ Welche Folgen hat das Urteil?

Die Folgen dürften weitreichend sein, denn bisher mussten nach dem deutschen Arbeitszeitgesetz nur Überstunden und Sonntagsarbeit dokumentiert werden, nicht aber die gesamte Arbeitszeit. Arbeitsrechtsexperten sprechen von einer „faustdicken Überraschung“ und einem „Paukenschlag“. Bislang gelten in vielen Unternehmen und Behörden sogenannte Vertrauensarbeitszeitmodelle, bei denen Beschäftigte ihre Arbeit zeitlich selbst organisieren und der Arbeitgeber ihnen in dieser Hinsicht vertraut. Andersherum müssen auch die Beschäftigten darauf vertrauen, dass sich die an sie gestellten Erwartungen in der vorgegebenen Arbeitszeit erfüllen lassen. Das Urteil könnte solche Arbeitszeitmodelle nun obsolet werden lassen.

▶ Was kommt auf Unternehmen zu?

„Unternehmen, die keine Lösungen zur umfassenden Arbeitszeiterfassung anbieten, befinden sich nun in einem rechtswidrigen Zustand“, warnte der Münchner Arbeitsrechtler Michael Kalbfus im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Übergangsfristen für die Einführung digitaler Stechuhren gebe es keine. Er könne den Unternehmen nur empfehlen, schnell Lösungen zur Zeiterfassung in Angriff zu nehmen, auch wenn der Aufwand zum Teil erheblich sei. Außerdem rechnet der Experte der Wirtschaftskanzlei Noerr mit Rückschritten bei den zuletzt immer beliebter gewordenen flexiblen Arbeitsmodellen. Das Urteil gelte auch für Homeoffice und Telearbeit, sagte Kalbfus. „Mit der großen Flexibilität im Homeoffice dürfte es vorbei sein.“